Inklusion Muss Laut Sein
Lydia schreibt in ihrem eigenen Blog
Ich sitze in der Straßenbahn. Hier habe ich mich in die Ecke am Fenster gekuschelt, halte meinen weißen Blindenstock locker im Arm und ein Hörbuch im Ohr. Und zwar in der Lautstärke, die es mir erlaubt trotzdem die Stationsansagen zu hören. Alles ist gut.
Auf einmal zupft mich jemand am Arm an. Ubs, werden jetzt Fahrkarten kontrolliert, und ich habe es überhört? Nein, Fehlanzeige. Eine Dame sitzt mir gegenüber und fragt mich: „Können sie denn gar nichts sehen“? „Doch, ein bisschen was“, antworte ich, und hoffe die Neugierde meines Gegenübers ausreichend befriedigt zu haben. Aber dieses fragt „Und kann man da gar nichts machen“? Echt jetzt? Meint die das ernst? Glaubt sie wirklich, dass ich freiwillig ein Dasein als Blindling gewählt habe, wenn es eine brauchbare Alternative gegeben hätte? Ich spare mir die Erklärung und verneine einfach. Mein Hörbuch ist spannender als dieses Gespräch.
„Sie tun mir echt leid“, kommt es von meinem Gegenüber. „Immer in Dunkelheit, das muss ja ganz schrecklich sein“. Okay, das war es wohl mit meiner ersehnten Ruhe und dem spannenden Hörbuch. Und da ich heute gute Laune habe, lasse ich mich auf das Gespräch mit ihr ein. Vielleicht kann ich ihrem Wissen, das zweifellos aus einer Kombination von Gerüchteküche und Regenbogenpresse beruht, ein Update verpassen. Manchmal gelingt mir das. Aber genauso oft stoße ich auf Menschen, die so sehr von ihrem Wissen überzeugt sind, dass sie nicht einmal bereit sind ein kleines bisschen nachzudenken. Bei solchen lernresistenten Leuten denke ich nur noch „Herr, lass Hirn vom Himmel regnen“. Und gern würde ich dann fragen „Kann man da gar nichts machen“? Aber ich weiß selbst, dass gegen Dummheit und Ignoranz kein Kraut gewachsen ist.
1981 trat die Sängerin Lena Valaitis mit dem Lied “Johnny Blue”. Im Eurovision Song Contest für Deutschland an. Hier geht es um einen blinden Jungen, der aufgrund seiner Blindheit ein erbärmliches Dasein fristet. Doch letztlich gelingt es ihm durch seine Musik Anerkennung zu finden. Und das sehr erfolgreich. Und das trotz seines Lebens in ewiger Dunkelheit.
Hier wurde wieder einmal ein weit verbreiteter Mythos bedient, nämlich dass Blinde automatisch in ständiger Dunkelheit Leben. Und weil normalsehende sich ohne Licht absolut unwohl und hilflos fühlen, ist die Meinung weit verbreitet, dass auch Blinde so empfinden. Erst recht, da es sich bei ihnen um einen Dauerzustand handelt.
Blind ist man vor dem Gesetz, wenn man auf dem besseren Auge weniger als 2 % sieht. Bei 100 % würde man ein Straßenschild auf 100 m Entfernung sehen. Ein Blinder sieht das auf höchstens 2 m Entfernung. Selbstverständlich handelt es sich hierbei nur um einen Richtwert.
Was und wie viel jemand sieht hängt von mehreren Faktoren ab. Zunächst einmal ist die Augenerkrankung entscheidend. Ebenso spielen Lichtverhältnisse eine entscheidende Rolle. Es gibt Menschen, die wie ich sehr blendempfindlich sind. Ich trage bei normalem Tageslicht eine spezielle Brille, die mir Erleichterung verschafft. Und dann gibt es auch Blinde, die bei gutem Licht relativ gut sehen können, jedoch ab der Dämmerung quasi nachtblind sind.
Ich bin keine Fachfrau auf diesem Gebiet. Daher möchte ich nicht näher auf die einzelnen Augenerkrankungen eingehen. Wichtig ist letztendlich, dass nur ca. 4 % aller dem Gesetz nach blinden gar kein Restsehen mehr haben. Und bei diesen ist es nicht dunkel, sondern sie sehen einfach nichts.
Können sich Blinde Farben vorstellen?
Menschen, die noch nie etwas gesehen haben, können sich optische Ereignisse, wie Farben nicht als solche vorstellen. Auch ich habe noch nie Farben sehen können. Das bringt meine Augenerkrankung mit sich, dass ich nur Grautöne wahrnehmen kann. Als Kind hat man mir regelmäßig verschiedene Farben vor die Augen gehalten und von mir verlangt diese zu lernen, so wie man einem Kind eben Farben beibringt. Da ich die meisten Farben nicht voneinander unterscheiden konnte, habe ich so manchen Erwachsenen damit zur Verzweiflung getrieben. Irgendwann war klar, dass das medizinische Gründe hatte. Und ab da ließ man mich damit in Frieden.
Farben sind für mich nichts weiter als Worte, denen Eigenschaften zugeordnet werden. So weiß ich dass der Farbe Rot die Liebe, und der Farbe Grün die Hoffnung zugeordnet wird usw. Und wenn man in einer visuell orientierten Welt überleben möchte, dann ist es wichtig sich dieses Wissen zu erarbeiten.
Und ähnlich halte ich es mit meiner Kleidung. Hier merke ich mir welche Bluse welche Farbe hat und zu welchem Kleidungsstück es passt. Das lasse ich mir von einer Person meines Vertrauens sagen. Und wenn ich mal eine Farbinformation brauche, dann gibt es ein kleines Gerät, welches ich an das Kleidungsstück halte. Ich bekomme dann angesagt ob ich jetzt den grünen oder blauen Pullover in der Hand halte. Das macht vor allem dann Sinn, wenn zwei Sachen aus dem gleichen Material sind und sich lediglich in der Farbe unterscheiden.
Es gibt einige Mythen, die sich um blinde Menschen ranken. Ziemlich weit oben hält sich, dass man zu einem Blinden besser nicht sagen sollte: „Wir sehen uns“. Ich finde das amüsant, wenn ich das mal sage, und mein Gegenüber erst mal stutzt. Natürlich darf man das zu einem Blinden sagen. Wir leben nun mal in einer visuell orientierten Welt. Und dazu gehört nun mal die Sprache. Es gibt so viele Wörter, in welchen das Wort „sehen“ enthalten ist. Auch wenn die Bedeutung nicht unbedingt was mit Sehen zu tun hat. Worte wie Vorsicht, Einsicht, Zuversicht, sind nicht die einzigen Beispiele dafür. Also, man darf zu einem Blinden guten Gewissens „Man sieht sich“ sagen. Ich finde, dass „Man hört sich“ ziemlich doof klingt, es sei denn man telefoniert gerade miteinander.
In diesem Sinne. Wir sehen uns dann auf meinem Blog wieder. (-:
Lydia`s Welt findet ihr hier:
https://lydiaswelt.wordpress.com/
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